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Vorsprung durch Digitalisierung?

Mit wenigen Ausnahmen halten Unternehmen im deutschsprachigen Raum an bestehenden Unternehmensstrategien und Produkten fest. Hohe Wachstumszahlen der letzten Jahre und gute konjunkturelle Aussichten geben den Verantwortlichen auch häufig durchaus recht.
5. April 2018
Lüenendonk
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Obwohl Vorstände und Geschäftsbereichsverantwortliche bisher vielfach gut damit gefahren sind, bestehende Strategien und Strukturen nicht zu verändern oder zumindest nur marginal anzupassen, hat sich mittlerweile eine regelrechte Silicon-Valley-Tourismusindustrie entwickelt und Vorstände reisen im Business Casual Look nach Kalifornien, um sich anschließend digitalisiert zu fühlen.

Und dann soll zu Hause in den „alten“ Strukturen des eigenen Unternehmens alles ganz schnell anders werden. Schnell werden Digital Labs geschaffen, Meetings mit Start-ups initiiert, CDOs eingestellt, und alle Projekte müssen agil sein.

Silicon Valley und Good Old Europe

Aber reicht das? Können die Gründermentalität und die digitale Kultur aus Kalifornien so einfach nach Old Europe überführt werden? Sicher, in Shareholder-Value-Zeiten sind Investitionen in neue Geschäftsmodelle ein Risiko, weil sie in der Regel den Börsenwert negativ beeinflussen.

Und daran werden Vorstände nun mal gemessen. Dagegen werden intern gerade von CIOs Innovationen und Veränderungsanstöße gefordert. Beißt sich doch eigentlich, oder?

Innovationen, Investitionen, Shareholder Value

Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gab der CEO von Renault, Carlos Ghosn, laut einem Bericht der FAZ einen interessanten Einblick in die CEO-Welt:

Je älter ein Unternehmen sei, so Ghosn, umso wichtiger seien die Quartalsergebnisse.

„Ich kann mir langfristige Planungen nur so lange leisten, wie meine Quartalsergebnisse stimmen. Fallen sie schlecht aus, werde ich gekreuzigt.“

Für junge Unternehmen dagegen seien Quartalsergebnisse nicht so wichtig, bemerkte Ghosn. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die ein digitales Produkt oder Service entwickelt haben und an der Börse gehypt werden, obwohl sie noch nie wirklich reales Geld verdient haben.

So war Mitte 2017 zeitweise der Instant-Messaging-Dienst Snapchat an der Börse rund 30 Milliarden Euro wert. Zum Vergleich: Das entspricht in etwa der Marktkapitalisierung von Dax-Konzernen wie Munich Re oder Adidas.

Dagegen muss man festhalten, dass Facebook, Zalando, Amazon und Netflix auch lange Zeit Verluste angehäuft haben, mittlerweile aber profitabel bis hochprofitabel sind und fast beiläufig erfolgreiche Geschäftsmodelle von Unternehmen aus ganz unterschiedlichen Branchen (Medien, Handel, IT, Automotive, Logistik) angegriffen haben.

Aber was bedeutet dieser Status nun für die Wirtschaft und die Unternehmen aus der Old Economy?

Digitalisierung: Oft Prozess­optimierung oder App

Aus Sicht von Lünendonk haben Großunternehmen und Konzerne Orientierungsschwierigkeiten bei der Bewältigung des Spannungsfeldes aus „Kerngeschäft und neuen digitalen Wachstumsfeldern“.

Nur 20 Prozent der führenden deutschen Topunternehmen zeigen nach Ansicht ihrer Führungskräfte eine hohe Anpassungsfähigkeit an Marktveränderungen jeglicher Art; sei es Globalisierung, demografischer Wandel oder Digitalisierung.

Vor allem das Management der Komplexität der Digitalisierung sowie die richtige Priorisierung notwendiger Maßnahmen bereiten den Unternehmen Probleme. Zu diesen Ergebnissen kommt die Lünendonk-Studie „Business Innovation & Transformation“, die Lünendonk jüngst veröffentlicht hat.

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass es aber nicht am Willen der Unternehmen und ihrer Führungskräfte zur Transformation mangelt. Im Gegenteil:

90 Prozent der untersuchten Unternehmen haben zum Zeitpunkt der Interviews im Sommer 2017 mindestens ein digitales Geschäftsmodell zur Marktreife gebracht beziehungsweise Entsprechendes geplant. Wie erfolgreich sie damit am Markt waren, steht auf einem anderen Blatt.

Aber wer nicht wagt, der auch nicht gewinnt. Allerdings müssen deutsche Konzerne deutlich mehr neue Geschäftsmodelle und Ideen ausprobieren und am Markt verproben.

Dabei können sie von den digitalen Vorreitern aus der Start­-up-Szene lernen und bewährte Methoden und Strukturen übernehmen. Ein Problem sind jedoch die verkrusteten IT-Strukturen und die Nicht-Fähigkeit, in kurzen Abständen Software-Releases zu veröffentlichen.

Auch das Testen neuer Software oder Software-Releases dauert oft deutlich länger als bei den digitalen Pionieren. Allerdings sind kurze Releasezyklen bei Anwendungssoftware ein sehr kritischer Erfolgsfaktor für digitale Geschäftsmodelle, um die User Experience konstant hoch zu halten.

Die Studienergebnisse zeigen aber, dass bei der Digitalisierung der Kernprozesse sowie der IT-Modernisierung die Unternehmen konsequent eine Digitalisierungsstrategie verfolgen; einige Konzerne bereits mit einer „Cloud-first-Sourcing-Strategie“.

So werden immer mehr Alt-Anwendungen in die Cloud migriert beziehungsweise hybride Deployment- Modelle setzen sich immer mehr durch.

Unternehmen geben alte Geschäftsmodelle nicht auf

Dagegen zeigt die Studie, dass die Unternehmen immer noch große Probleme damit haben, neue, digitale Lösungen (SaaS für Fachprozesse) und onlinebasierte Geschäftsmodelle zu integrieren.

79 Prozent sehen sich bei der Integration digitaler Lösungen in die Backend-IT maximal auf Augenhöhe mit dem Wettbewerb. Aus Sicht von Lünendonk sind Unternehmen gut darin, innerhalb von Silos Digitalisierungsfortschritte zu erzielen.

Daher sind die Automatisierungsfortschritte auch so deutlich sichtbar, da es vergleichsweise Quick Wins sind.

Müssen Kernprozesse leiden?

Dagegen müssen bei der konsequenten Einführung und Vermarktung digitaler Geschäftsmodelle die bisherigen Kernprodukte „leiden“, was für den Vertrieb einen großen Einschnitt darstellt.

Ebenso erfordern digitale Geschäftsmodelle zum Teil völlig neue Prozesse, Organisationsstrukturen, die Integration von Technologiepartnern in die Organisation, den Aufbau von digitalen Plattformen und eine deutlich stärkere Kundenorientierung als bisher.

Diese Themen sind es vor allem, an denen Digitalstrategien in ihrer Operationalisierung häufig scheitern. Die einzelnen Punkte anzupacken ist dabei nicht die große Herausforderung.

Die Schwierigkeit besteht vielmehr in der Denkweise der meisten Topmanager, die davon ausgehen, zur digitalen Transformation gehörten nur automatisierte Prozesse und einige ergänzende digitale Mehrwertservices (Self-Service-Portale, Apps, neue Webseiten etc.).

Wie sonst lässt es sich erklären, wenn man als Kunde eines der größten deutschen Versicherungskonzerne keine Angebote per Mail zugeschickt bekommt, sondern nur per Post (!), oder Vertragsfragen nicht von der Kundenhotline zentral beantwortet werden können und man mit der Fachabteilung sprechen muss – von Chatbots mit unterstützenden KI-Technologien mal ganz zu schweigen.

Digitale Bemühungen

Oder warum forciert eines der führenden deutschen Modehäuser seinen Onlinehandel, ermöglicht die Abholung der online bestellten Ware in der Filiale, der Kunde kann aber nicht in der Filiale bezahlen oder die Ware umtauschen.

Das sind nur zwei aktuelle Beispiele der schlechten Erfahrungen des Autors mit den Digitalisierungsbemühungen deutscher Großunternehmen aus der Old Economy. Sie untermauern die Erkenntnis der Studie, dass von Vorsprung durch Digitalisierung in vielen Unternehmen noch nicht die Rede sein kann.

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